Eine nicht biblische Geschichte
Krieg ist eine Geisteshaltung – Wie können arabische und israelische Kinder
zueinander finden?
Von Uri Avnery*
Vor ein paar Jahren sprach ich mit einer jungen israelischen Autorin. Ich war erstaunt, dass von ihr
trotz ihres Erfolges und des Lobes ihrer Rezensenten – und das in relativ jungem Alter – solche
Unsicherheit ausging. Als ich sie befragte, brach sie zusammen. »Das habe ich noch nie jemandem
erzählt. Meine ganze Kindheit war eine Hölle. Ich wusste nicht, dass meine beiden Eltern in
Auschwitz gewesen waren. Sie sprachen nie davon. Ich wusste nur, in unsrer Familie gibt es ein
schreckliches Geheimnis – es war so schrecklich, dass es mir verboten war, sogar danach zu
fragen. Ich lebte in ständiger Angst, unter ständiger Drohung. Ich hatte nie ein Gefühl der
Sicherheit.«
Das ist Gewalt – keine physische Gewalt, aber trotzdem Gewalt. Viele israelische Kinder haben
diese Erfahrung gemacht, auch als der Staat Israel immer mächtiger geworden war und Sicherheit –
großgeschrieben! – schließlich zu einem Fetisch geworden ist.
Wir Israelis und Palästinenser leben in einem Dauerzustand von Krieg. Er hat nun mehr als 120
Jahre gedauert. Eine fünfte Generation von Israelis und Palästinensern ist in diesen Krieg
hineingeboren worden, wie ihre Eltern und Lehrer. Ihre ganze psychische Einstellung ist vom Krieg
von frühester Kindheit an beeinflusst worden. Jeder Tag ihres Lebens wird von den täglichen
Nachrichten von Gewalt beherrscht.
In vielen Hinsichten ist der israelische Konflikt einzigartig. Um einen komplizierten historischen
Prozess in vereinfachter Weise darzustellen, war er etwa folgendermaßen: Am Ende des 19.
Jahrhunderts wurde vielen europäischen Juden klar, dass der wachsende Nationalismus aller Völker
fast immer von einem bösartigen Antisemitismus begleitet war und auf eine Katastrophe hinführte.
Sie entschieden, selbst eine Nation zu werden und einen Staat für Juden zu gründen. Sie wählten
Palästina, die alte Heimat ihres Volkes, um dort ihren Traum zu verwirklichen. Der Slogan hieß: »Ein
Land ohne Volk für ein Volk ohne Land.« Aber Palästina war nicht unbesiedelt. Das Volk, das dort
lebte, war natürlich dagegen, dass ein anderes Volk von irgend woher kam und Ansprüche auf sein
Land erhob.
Der Historiker Isaak Deutscher beschrieb den Konflikt wie folgt: Eine Person lebt in der oberen
Etage eines Gebäudes, in dem ein Brand ausgebrochen ist. Um sich selbst zu retten, springt sie aus
dem Fenster und landet auf einem zufällig Vorbeigehenden und verletzt ihn schwer. Zwischen
beiden wächst eine tödliche Feindschaft. Wer ist schuld daran?
Jeder Krieg schafft Angst, Hass, Misstrauen, Vorurteile, Dämonisierung. Um so mehr, wenn ein
Krieg generationenlang dauert. Jedes der beiden Völker hat ein eigenes Narrativ entwickelt.
Zwischen den beiden Narrativen – dem israelischen und dem palästinensischen – gibt es nicht die
geringste Ähnlichkeit. Was ein israelisches Kind und ein palästinensisches Kind von frühester
Kindheit an über den Konflikt lernt – zu Hause, im Kindergarten, in der Schule und in den Medien –
ist total verschieden.
Nehmen wir ein israelisches Kind: selbst wenn seine Eltern und Großeltern keine HolocaustÜberlebenden
sind, erfährt es, dass Juden während der ganzen Geschichte verfolgt worden sind. Es
lernt tatsächlich, dass die Geschichte nichts anderes als eine endlose Reihe von Verfolgung,
Inquisition und Pogromen war, die zur entsetzlichen Shoa führten.
Ich las einmal die Berichte von israelischen Schulkindern, die nach einem Besuch in Auschwitz zur
Aufgabe bekamen, aufzuschreiben, welche Schlüsse sie nun ziehen würden. Etwa ein Viertel von
ihnen schrieb: Meine Schlussfolgerung ist, dass nachdem, was die Deutschen uns angetan haben,
wir Minderheiten und Ausländer besser als andere behandeln müssen. Aber drei Viertel schrieben:
»Nachdem, was die Deutschen uns angetan haben, ist es unsere höchste Pflicht, die Existenz des
jüdischen Volkes zu schützen, und zwar mit allen erdenklichen Mitteln, ohne Begrenzung.«
Dieses Gefühl, das ewige Opfer zu sein, besteht hartnäckig, auch nachdem wir eine mächtige
Nation geworden sind. Dies steckt tief in unserm Bewusstsein. Schon im Kindergarten und dann in
jedem Schuljahr erlebt ein jüdisches Kind in Israel eine Reihe jährlicher nationaler und religiöser
Feiertage (zwischen beiden gibt es kaum einen Unterschied). Es sind Gedenktage, an denen Juden
Opfer wurden und um ihr Leben kämpften:
-
Chanukka: Man erinnert sich an den Kampf der Makkabäer gegen die griechischen Unterdrücker.
- Purim: Der Sieg über die Perser, die die Juden ausrotten wollten.
- Pessach: die Flucht der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei.
- Der Gedenktag für die israelischen Soldaten, die in unsern vielen Kriegen gegen die Araber
gefallen sind.
- Der Unabhängigkeitstag, unser verzweifelter Kampf ums Überleben im 1948er-Krieg, in dem unser
Staat gegründet wurde.
- Der Holocausttag;
- Der 9. im Monat Av, als der Tempel zweimal zerstört wurde, einmal von den Babyloniern und fünf
Jahrhunderte später von den Römern.
- Der Jerusalemtag, als wir im Sechstagekrieg außer dem östlichen Teil der Stadt ganz Palästina,
die Sinai-Halbinsel und die syrischen Golan Höhen eroberten.
- Nur Yom Kippur ist ein rein religiöser Feiertag, aber in unserm Gedächtnis ist er unweigerlich mit
dem schrecklichen Krieg von 1973 verknüpft.
Für jede dieser Gelegenheiten gibt es – jahrein, jahraus – besondere Unterrichtseinheiten, die ihre
Bedeutung erklären und ihre Bedeutsamkeit unterstreichen. Der Höhepunkt ist der Sederabend am
Pessachabend, bei dem man des Auszugs aus Ägypten gedenkt. In jeder jüdischen Familie rund um
den Globus findet dieselbe Zeremonie statt. Jedes Mitglied der Familie vom Ältesten bis zum
Jüngsten spielt seine Rolle, und alle fünf Sinne – sehen, hören, schmecken, riechen, fühlen –
nehmen daran teil. Jeder Jude, so säkular er auch sein mag, erinnert sich an dieses hypnotisierende
Geschehen in seiner Kindheit, die er jedes Jahr in der Wärme und Herzlichkeit der versammelten
Familie verbracht hat.
Im Bewusstsein der Kinder vermischen sich all diese Ereignisse. Meine Frau Rachel, die viele Jahre
lang Lehrerin der 1. und 2. Klasse der Grundschule war, sagte, dass die Kinder nicht verstehen, wer
vor wem kam: die Römer oder die Briten, die Babylonier oder die Araber.
Der summierende Effekt davon ist eine Weltansicht, in der Juden in jeder Geschichtsphase und in
jedem Land von der Vernichtung bedroht gewesen sind und um ihr Leben kämpfen mussten. Die
ganze Welt ist, war und wird immer »gegen uns« sein. Gott – ob es ihn gibt oder nicht – hat uns
unser Land versprochen, und niemand sonst hat ein Recht auf dieses. Das schließt auch die
palästinensischen Araber ein, die hier seit mindestens 1300 Jahren leben. Mit solch einer Gesinnung
ist es schwer, Frieden zu schließen.
Nun lassen Sie mich ein palästinensisches Kind nehmen. Was lernt es? Es lernt:
-
dass es zum arabischen Volk gehört, das im Mittelalter ein ruhmreiches Reich mit einer blühenden
Zivilisation hatte, während die Europäer noch Barbaren waren. Die Araber lehrten die Europäer
Wissenschaften und brachten ihnen die Aufklärung;
- dass die barbarischen Kreuzfahrer ein entsetzliches Blutbad in Jerusalem anrichteten und
Palästina schändeten, bis sie von dem großen muslimischen Helden Salah-al-din (Saladin)
vertrieben wurden;
- dass die Palästinenser jahrhundertelang von räuberischen Fremden gedemütigt und unterdrückt
wurden – zuerst von den Türken, dann von den europäischen Kolonialherren, die die Zionisten nach
Palästina brachten, um alle Hoffnung der Araber, in den eigenen Ländern frei zu werden, zu
unterdrücken;
- dass während der Nakba (Katastrophe) von 1948 das halbe palästinensische Volk aus seinen
Häusern und seinem Land von den Zionisten vertrieben wurde und dass seit 1967 fast alle
Palästinenser entweder als Flüchtlinge oder als Opfer einer endlosen und grausamen Besatzung
dahinvegetieren.
Jedes palästinensische Kind wächst mit einem tiefen Gefühl von Groll und Demütigung auf und dem
Gefühl, Opfer einer großen Ungerechtigkeit zu sein, nur fähig, sein Volk allein durch gewalttätigen
Kampf, Heldentum und Selbstopfer zu erlösen.
Wie kann Frieden zwischen zwei Völkern gemacht werden, deren beide Narrative derart
entgegengesetzt, scheinbar unvereinbar und unversöhnlich sind?
Sicherlich nicht durch diplomatische Manöver. Diese können die Situation vorübergehend
erleichtern, aber sie können selbst dem Konflikt kein Ende setzen. Die Geschichte des Oslo-
Abkommens zeigt: Wenn man sich nicht mit den Wurzeln des Konfliktes, die tief in der Psyche
beider Völker stecken, befasst, dann ist ein Abkommen nichts als ein kurzlebiger Waffenstillstand.
Frieden ist ein Geisteszustand. Die Hauptaufgabe beim Friedenmachen ist mental: man muss die
beiden Völker und jedes einzelne Individuum dahin bringen, das eigene Narrativ in einem neuen
Licht zu sehen und – was noch wichtiger ist – das Narrativ der anderen Seite zu verstehen. Man
muss den Tatbestand verinnerlichen, dass die beiden Narrative wie die zwei Seiten ein und
derselben Münze sind. Das ist vor allem ein pädagogisches Unterfangen. Als solches ist es
unglaublich schwierig, weil es zuerst von den Pädagogen begriffen werden muss, die ja selbst von
der einen oder anderen dieser Weltanschauungen durchdrungen sind.
Lassen Sie mich eine kleine Geschichte erzählen: Meine Frau Rachel unterrichtete in ihrer Klasse
die biblische Geschichte von Abraham, wie er ein Stück Land in Hebron von Ephron, dem Besitzer,
kaufte, um seine Frau Sarah dort zu beerdigen. Zuerst bot Ephron das Stück Land als Geschenk an.
Und erst nach vielem Bitten nannte er einen Preis: 400 Schekel und sagte: »Was ist das zwischen
dir und mir?« (Genesis 23). Rachel erklärte ihren Kindern, dass dies die Art sei, in der Beduinen in
der Wüste ihre Geschäfte bis heute machen. Es wäre unhöflich und grob, gleich mit dem Preis zu
kommen, man muss die Ware erst einmal als Geschenk anbieten. So wird der Handel höflich und
das Leben zivilisierter. Während der Pause fragte Rachel ihre Kollegin von der Parallelklasse, wie
sie ihrer Klasse das biblische Kapitel erklärt habe. »Ganz einfach!«, antwortete diese, »dies ist ein
typisches Beispiel für arabische Heuchelei. Man kann ihnen kein Wort glauben. Sie bieten dir ein
Geschenk an, und dann verlangen sie einen hohen Preis!«
Damit Frieden möglich wird, muss die ganze Mentalität verändert werden. Das ist es, was meine
Freunde und ich im israelischen Friedensblock Gush Shalom versuchen zu tun. Haben wir eine
Chance?
Als ich neun Jahre alt war und im Vor-Hitler-Hannover lebte, erzählte die Lehrerin vom Denkmal des
Hermanns des Cheruskers im Teutoburger Wald: »Hermann steht mit dem Gesicht zum Erzfeind«,
sagte sie und fragte: »Wer ist unser Erzfeind?« Die Kinder antworteten wie aus einem Munde:
»Frankreich! Frankreich!«
Heute nach einem Krieg, der Jahrhunderte dauerte, sind Deutschland und Frankreich nicht nur
Verbündete, sondern Partner in dem wunderbaren Unternehmen eines vereinigten Europa. Wenn
dies hier geschehen konnte – dann ist Frieden überall möglich.
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs
* Veröffentlicht in: Neues Deutschland, 26.11.2005
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