Die Prinzen von Bantustan
Palästina: Ein anderer Blick auf die Reformdebatte
Dass vieles im Argen liegt in der palästinensischen Autonomiebehörde, ist schon länger bekannt. In einem besetzten Land, das sich in einem Bürgerkriegszustand befindet und zudem von auswärtiger finanzieller Hilfe abhängig ist, gedeihen neben Hass und Gewalt auch Korruption, Cliquenwirtschaft und Autokratie. Es herrscht also großer Reformbedarf in der palästinensischen Gesellschaft. Der folgende Beitrag beleuchtet die Probleme aus der Innenperspektive und fragt nach den gesellschaftlichen Kräften und widerstreitendenn Interessen in der Reformdebatte. Wir dokumentieren leicht gekürzt einen Beitrag ("Die Prinzen von Bantustan"), der am 27. Juni in der Schweizer Wochenzeitung WoZ erschienen ist. Der Autor plädiert für eine Pause bei den palästinensisch-israelischen bzw. internationalen Verhandlungen zugunsten einer Forcierung der Reformdebatte "von unten".
Von Subhi al-Zobaidi, Ramallah
...
Mittlerweile sind es über tausend.
AkademikerInnen, PolitikerInnen, lokale
Persönlichkeiten, KünstlerInnen,
SchriftstellerInnen haben den Aufruf
unterschrieben, der zuerst am 17. Juni erschienen
war, am Tag nach
einem Selbstmordattentat im Süden Jerusalems. 55
PalästinenserInnen
riefen darin die Verantwortlichen auf, die
Selbstmordanschläge zu stoppen.
Am Tag darauf kam der nächste Selbstmordanschlag,
und noch einen Tag
später erschien die gleiche Anzeige in der lokalen
Zeitung «Al-Quds»
erneut, diesmal bereits mit über 150
Unterschriften.
In der gleichen Woche brachte die Zeitung
«Al-Hajat al-dschadida» eine
kurze Nachricht über die Absicht der anerkannten
Persönlichkeiten Haidar
abdesch-Schafi, Mustafa al-Barghuti und Ibrahim
Dakak, eine neue
politische Form zu finden, um die
palästinensischen Energien und Kräfte
wieder zu beleben. ...
Hiesige Zeitungen, arabische
Satellitenfernsehkanäle, lokale
Fernsehsender und die Menschen auf der Strasse
diskutieren ständig über
die israelische Aggression und palästinensische
Reformen.
Wahrscheinlich könnte jeder einzelne
Palästinenser, jede einzelne
Palästinenserin überzeugende Gründe formulieren,
warum die Behörden
verändert werden müssen. Öffentliche Versammlungen
rufen genauso wie
politische Organisationen und Figuren dazu auf;
organisiert werden
akademische Veranstaltungen, Fernsehdebatten und
offene
Versammlungen an den Universitäten und Schulen zum
Thema; die
Zeitungen sind voll mit entsprechenden
Kommentaren.
Grosse Einigkeit herrscht darüber, dass es dem
palästinensischen
Widerstand an Kohärenz fehlt. Zwar teilen wir alle
zumindest ein
gemeinsames Ziel: Freiheit und Unabhängigkeit.
Doch wir scheinen in
widersprüchlicher Weise darauf hinzuarbeiten.
Jede politische Figur
glaubt, «die Wahrheit» zu sagen, die reine
Wahrheit. Und weil es in dieser
Logik nur eine Wahrheit gibt, gibt es keinen Platz
für andere. Es fehlt an
Einheit, in der unsere Vielfalt und
Unterschiedlichkeit vertreten und
reflektiert wären.
Salim Tamari, Soziologin und Leiterin des
Institute of Jerusalem Studies,
erklärt, dass die heutige arabische und
palästinensische Politik eigentlich
zur Vergangenheit gehört: «Die sozialistischen und
säkularen politischen
Fraktionen haben es nicht geschafft, die lokalen
und globalen
Veränderungen zu verstehen und einzuordnen. Daraus
resultierte die
Verbreitung religiöser Parteien. Und die waren
bisher unfähig, praktische
Lösungen anzubieten.» Issam Nassar, Historiker und
Koleiter des
Institutes, identifiziert sich nicht mehr mit den
linken Parteien, obwohl er
als Anhänger einer solchen Partei aufwuchs. «Sie
sind gefangen in den
gleichen alten Parolen und haben den Bezug zur
Gegenwart verloren. Und
sie sind in ihren nationalistischen Dogmen
eingesperrt, unfähig darüber
hinauszugehen», so Nassar.
Dschamil Hilal, Gründungsmitglied der
Demokratischen Front zur
Befreiung Palästinas (DFLP) und heute
Unabhängiger, arbeitet als
Forscher und Autor. Er informiert über die jüngste
Meinungsumfrage, der
zufolge etwa dreissig Prozent der
PalästinenserInnen keiner politischen
Fraktion mehr trauen. «Wobei in Palästina sowieso
nur noch die
Fatah-Bewegung und die islamistische Hamas
existieren», sagt Hilal, «die
anderen sind ineffizient und haben keine
öffentliche Ausstrahlung.»
Islah Dschad, Feministin und Dozentin der
Bir-Zeit-Universität, glaubt,
dass es zwischen den Anliegen der Öffentlichkeit
und den Programmen
der politischen Parteien keinen Zusammenhang gibt.
«Niemand vertritt das
Volk, weder die Behörden noch die Opposition. Es
braucht eine neue
Partei, ein neues politisches Forum.»
«Wie stellen Sie sich das vor?»
«Sie muss anders beschaffen sein als die
Mehrheitspartei, die Fatah, die
nicht deutlich macht, ob sie säkular ausgerichtet
ist oder nicht, ob sie
bewaffneten Widerstand wählt oder nicht, ob sie
auf dem Recht auf
Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge besteht
oder nicht. Diese
wichtigste politische Strömung hat kein Gesicht,
keine politische
Philosophie. Die zweite politische Kraft sind die
radikalen islamischen
Gruppen, die alles von einem religiösen Standpunkt
aus beurteilen.
Letztlich stellt ihr Programm Muslime und
Nicht-Muslime und Männer und
Frauen nicht auf die gleiche Ebene. Ich stelle mir
etwas vor, was wir früher
schon einmal hatten: eine linke Strömung mit einer
klaren sozialen
Philosophie, eine, die den Geist stärkt, die
kulturelle Offenheit statt
Isolation propagiert, die eine dynamische
Wirtschaftspolitik vertritt anstelle
unserer heutigen eigennützigen Wirtschaft, wo die
Reichen die Armen
fressen. Wichtig ist, dass diese neue Strömung
unseren Konflikt mit den
Israelis weder als existenziellen noch als
religiösen Konflikt sieht. Sondern
als historisches Unrecht, das die Palästinenser
für die europäische Schuld
gegenüber den Juden bezahlen lässt. Die
eingewanderten Juden leben
heute hier in Palästina, doch sie müssten sich
nicht als Kolonialmacht
verhalten. Darum ist es wichtig, dass dieses neue
Forum ihre Vision eines
Staates verdeutlicht: der allen, die in Palästina
leben, die gleichen Rechte
gibt, Arabern und Juden. Umfragen zufolge sind
sechzig Prozent der
Israelis gegen die Siedlungen in den besetzten
Gebieten – warum können
wir nicht mit diesen Israelis zusammenarbeiten, um
die Siedler zu
stoppen? Weil wir unsere Botschaft und unsere
Position diesen Leuten
nicht klar machen. Selbstmordattentate machen
unsere Bemühungen,
diesen Teil der israelischen Öffentlichkeit zu
erreichen, zunichte.»
Tamari, Nassar und Hilal sehen es ähnlich. Auch
sie denken an ein
politisches Forum, das Verschiedenheit und
Vielfalt gegen die
dogmatische Strenge stellt, die bis heute die
politischen Fraktionen
charakterisiert. Sie sind sich einig, dass ein
solches politisches Forum die
PalästinenserInnen im Lande selbst und jene der
Diaspora vertreten muss.
Und dass eine neue politische Kraft nur dann
Erfolg haben kann, wenn sie
sich auf die sozialen Gruppen bezieht, auf Frauen,
Jugendliche,
Flüchtlinge, Kinder; wenn sie neben dem
politischen Programm eine
soziale Vision hat.
Kann die von Jassir Arafat und den
Autonomiebehörden angekündigte
Reform des politischen Gefüges das schaffen? Kann
diese Reform den
Lauf der Dinge ändern, die Wende bringen? Wen
immer ich das fragte –
AkademikerInnen, Kulturschaffende, PassantInnen –,
die Antwort war ein
entschiedenes Nein. Niemand ist zufrieden mit
Arafats Massnahmen zur
Umstrukturierung der Autonomiebehörden. Alle
wissen, dass mehr getan
werden muss, dass die Grundlagen und Institutionen
der Behörden
drastische Veränderungen brauchen. Die
angekündigten Massnahmen
müssten sich sowieso erst einmal bewähren können.
Doch unter der
anhaltenden israelischen Aggression ist es wenig
wahrscheinlich, dass
eine Regierung überleben und funktionieren kann.
Viele lokale
Führungspersonen sind überzeugt, dass es eine
andere Form der Führung
braucht – eine frische Führung, die Hoffnung
schafft und die Sehnsüchte
der Bevölkerung repräsentiert, nicht ihre
Verzweiflung.
Verzweiflung und Frustration sind nicht nur
politischer Art, sondern auch
sozialer und wirtschaftlicher. Keine Fraktion und
keine Behörde wird es
schaffen, Hoffnung zurück in die zerstörten Häuser
und Herzen von
Millionen von PalästinenserInnen zu bringen, wenn
sie diese Themen nicht
anspricht.
Wir haben alle Elemente für dieses neue Forum, wir
haben genügend
Intellektuelle, Werktätige, Politveteranen;
genügend Arme, Flüchtlinge,
Gefangene, Verwundete und Behinderte. Warum haben
wir denn dieses
neue Forum noch nicht? Was braucht es denn noch?
Islah Dschad sagt:
«Jene Leute, die die Fähigkeit und Kraft haben,
eine solche Initiative zu
beginnen, sind lieber Prinzen in ihren kleinen
Königreichen, in ihren
nichtstaatlichen Organisationen oder privaten
Institutionen, als Diener in
der grossen Stadt.» ...
Dringender als Wahlen und dringender als schnelle
Verhandlungen mit
schnellen Resultaten brauchen wir
PalästinenserInnen eine Pause. Um
wieder zum Atmen zu kommen, unsere gebrochenen
Knochen zu
sammeln und nachzudenken. Unter den heutigen
Bedingungen sollte die
existierende offizielle palästinensische
Vertretung nicht über
entscheidende Fragen verhandeln, über das Recht
auf Rückkehr,
Flüchtlinge, Jerusalem, Staatsgrenzen und Wasser.
Die aktuelle Führung
sollte den PalästinenserInnen eine Pause
verschaffen, damit sie wieder
zusammenkommen können, aus der Diaspora, den
Fraktionen, den
beschädigten Dörfern und Flüchtlingslagern.
Der israelische Krieg gegen die PalästinenserInnen
hat eine dramatische
Wende genommen, was Grausamkeit und Hass betrifft.
Und wir fanden
uns in der neuen Ethik der Welt nach dem 11.
September gefangen
wieder. PalästinenserInnen müssen Fernsehbilder
über sich ergehen
lassen, in denen George Bush auf Ariel Scharon
folgt, beide referierend
über ihre Kriege gegen «das Böse».
Die veränderten israelischen Methoden und
Taktiken, die veränderte
Weltlage verlangen, dass wir unseren Widerstand
überdenken und kreativ
genug sind, uns auf die effektivste Art zu
engagieren. Widerstand gegen
die Besetzung ist heute kaum mehr Angelegenheit
der Öffentlichkeit.
Märtyrertum und Selbstmordattentate machten den
Widerstand zur Sache
einiger weniger, den «Auserwählten», während die
anderen nur zuschauen
und die Folgen ertragen müssen. Widerstand gegen
die Besetzung muss
auf die Strasse zurückgebracht werden und die
Strasse zurück in den
Widerstand. Das ist der Unterschied zwischen der
ersten und der zweiten
Intifada: Die erste war ein Volksaufstand, an dem
sich alle beteiligten. Die
Steine in den Händen junger Männer und Frauen
erwiesen sich als viel
stärker und effektiver als all unsere Feuerwaffen.
Aus: WoZ, 27. Juni 2002
Zurück zur Palästina-Seite
Zur Nahost-Seite
Zurück zur Homepage