Ein tiefer Graben quer durchs Land
Gibt es in Syrien einen Aufstand oder Krieg? Die Antwort markiert den Standort im Konflikt
Von Oliver Eberhardt, Damaskus *
Am Nachmittag, in einem Damaszener
Teehaus, erschüttert der
Krieg eine Welt, die eigentlich für
die Ewigkeit geschaffen schien, in
der aber jetzt nichts mehr sicher
ist.
»Wenn die Freiheit kommt,
wird alles besser«, hat Mohammed
gesagt, als das Gespräch auf
die horrenden Lebensmittelpreise,
die gestiegene Arbeitslosigkeit,
eben die gesamte Lage kam, und
mit einem Mal bricht es aus Haitham
heraus. »Was zum Teufel soll
besser werden?«, brüllt der Mann
Mitte 30: »Euer Krieg ruiniert uns
alle. Meine Kinder können nicht
mehr schlafen, wollen nicht mehr
in die Schule gehen. Ich habe meine
Arbeit verloren und meine
Nachbarn auch. Hör' auf zu träumen.«
»Unser Krieg?«, schreit Mohammed
zurück: »Verdammt noch
mal, das ist auch dein Krieg. Was
glaubst du denn, wer schuld an der
Lage ist: Assad und sein Pack sind
schuld an der Lage, und niemand
sonst. Die Wirtschaft war doch immer
schon im Eimer. Es gibt keine
Meinungsfreiheit. Menschen werden
von der Straße weg verhaftet;
das Militär knallt wahllos Leute ab.
Soll das immer so weiter gehen,
weil niemand ein Opfer bringen
will?«
Für einen Moment sieht es so
aus, als würden die beiden gleich
aufeinander los gehen. Am Nebentisch
verfolgen zwei junge
Männer aufmerksam jedes Wort.
Leute vom Geheimdienst? Oder
einfach nur Gäste, die den Konflikt
für ein paar Stunden durch eine
Schlacht am Backgammon-Brett
ersetzen wollten? In Syrien konnte
man das schon früher nie so genau
sagen. In diesen Tagen ist es
absolut unmöglich, auch für die
Einheimischen. »Leute«, sagt der
Ober beruhigend, »ich weiß es ist
schwer, aber passt ein bisschen
auf.«
Syrien – das war das beste Land in Nahost
Draußen, auf einem der reichlich
überdimensionierten Boulevards,
die unter Hafez al-Assad, Vater
und Vorgänger von Präsident Baschar
al-Assad, wie breite Schneisen
durch Damaskus geschlagen
wurden, fahren die an ihren grünen
Nummernschildern erkennbaren
Fahrzeuge des Allgemeinen
Sicherheitsdirektorats, eines der
unheimlichsten Geheimdienste des
Nahen Ostens, ihre Runde. Polizei
und Militär zeigen Präsenz. Zivilfahrzeuge
sind nur wenige unterwegs.
Mit den internationalen
Sanktionen gegen das Regime sind
nicht nur Lebensmittel teuer geworden.
Sprit ist nun nahezu ein
Luxusgut. Mohammed und Haitham,
heute Mitte 30, haben als
Kinder miteinander gespielt, sind
zusammen zur Schule gegangen,
haben gemeinsam beim Militär
gedient, und während des Studiums,
im Ausland, gab es Kommilitonen,
die sie scherzhaft als »siamesische
Zwillinge« bezeichneten.
Einmütig haben sie auch Syriens
Regierung verteidigt, wenn
an der Uni die weniger Überzeugten
die Menschenrechtsverletzungen
des Regimes und dessen Rolle
im Libanon-Krieg zur Sprache
brachten.
Syrien, das war damals, Ende
der 90er Jahre, das beste Land der
Erde: Das leckerste Essen, die
schönsten Frauen, das beste
Nachtleben, und die Regierung, die
war die Bewahrerin des Ganzen,
gegen Islamisten, Zionisten, Terroristen.
Doch schon damals, Monate
bevor Syrien nach dem 11. September
2001 auf der Achse des
Bösen landete, hatte die Glitzerwelt
große Schattenseiten. Abseits
der prall gefüllten Basare, der teuren
Restaurants in der Damaszener
Innenstadt, befand sich die
Wirtschaft zwar langsam, aber
kontinuierlich,seit Ende der 90er
Jahre in einem Abwärtssog: In den
schicken Boutiquen wurde zunehmend
Kleidung aus China statt
einheimische Produkte verkauft,
im unteren Sektor der Bevölkerung
stieg die Arbeitslosigkeit. Und
der Unmut. Jahrzehnte lang hatte
das Regime von Hafez al-Assad
kaum in Bildung investiert, hatte
man Minderheiten wie die Kurden
diskriminiert.
Als der seit seinem Militärputsch
von 1970 amtierende
Machthaber kurz darauf starb und
sein im Ausland ausgebildeter
Sohn Baschar an die Macht kam,
setzte vor allem die Unterschicht
große Hoffnungen in ihn. Hoffnungen,
die er zu erfüllen schien:
Plötzlich entstanden auch in den
Randgebieten Schulen, während in
Damaskus die Intellektuellen Dinge
sagen durften, für die sie vor
wenigen Tagen noch von der Straße
weg verhaftet worden wären.
Und: Auch die Landbevölkerung
lernte das Internet kennen.
Besser wurde ihr Leben nicht.
Auch Baschar al-Assad gelang es
nicht, den Niedergang der Wirtschaft
zu stoppen und damit eine
der Hauptforderungen an ihn zu
erfüllen.
Es ist vor allem dieser Teil der
Bevölkerung, der sich nun gegen
das Regime wendet. Wenn man
sich umhört, dann ist es ein Satz,
der immer wieder fällt: dass man
nichts mehr zu verlieren habe,
dass es nur besser werden könne,
ganz gleich, wie viele Menschen
sterben – »die Regierung kann
nicht jeden von uns töten«, sagt
ein junger Mann, der, »seit ich
klein war«, in einer Bäckerei die
Brote in den Ofen schiebt, tagein,
tagaus, für einen Lohn, der in diesen
Tagen nicht einmal mehr für
das Notwendigste reicht: »Wenn
ich eine Waffe hätte, dann würde
ich kämpfen,« sagt er. Und sein
Chef pflichtet bei: Immer öfter
bleibt auch das Brot, in Syrien
Grundnahrungsmittel, einfach liegen.
Man könnte sagen, dass der
Graben, der an diesem Tag zwischen
den beiden Freunden Mohammad
und Haitham aufgebrochen
ist, symbolisch für das gesamte
Land steht: Mit dem Bürgerkrieg
hat sich eine Kluft aufgetan,
die sich durch die Gesellschaft,
aber auch durch Freundschaften,
durch Familien zieht.
Noch klammern sich Mittel- und
Oberschicht an das Regime; man
fürchtet sich vor dem, was nach
Assad kommen könnte: Übernehmen
die Islamisten die Macht?
Versinkt das Land im Chaos? Wird
man den eigenen Lebensstandard
halten können? Die Unsicherheit
ist allgegenwärtig.
Die oberen Schichten der Städte
und das Regime bildeten über
Jahrzehnte hinweg ein eng verwobenes
Geflecht, in dem der eine
den anderen stützte und unterstützte
– durch Geld, und persönliche
Beziehungen. Heute löst sich
dieses dichte Netz auf, und die internationalen
Sanktionen haben
daran einen erheblichen Anteil:
Die Krise ist oben angekommen.
Ein hoffnungsloser Auftrag?
Es gibt einen Waffenstillstand, der
nicht hält und von dem in diesem
Moment niemand sagen kann, ob
er je halten wird; so wie man im
Monat 14 nach dem Beginn des
Aufstandes, des Krieges – die Wahl
des Begriffes ist Sache des persönlichen
Standpunktes – überhaupt
nur sehr wenig darüber sagen
kann, was ist und was werden
wird. Stimmen die Berichte der
Oppositionsgruppen über Kinder,
die im Gefängnis gefoltert werden?
Über Massenvergewaltigungen?
Wie viele Menschen sind bisher
gestorben?
Es wäre zu gefährlich, dorthin
zu fahren, wo sich die Auseinandersetzungen
abspielen: Reporter
vor Ort berichten, das Militär setze
Scharfschützen ein, zudem würden
die Kämpfer der Opposition
zunehmend paranoider: »Die
meisten von denen sind junge
Männer, die bei jedem, der sie anspricht,
einen Agenten der Sicherheitsdienste
vermuten.«
Am Abend treffen UNO-Vertreter
ein; sie sollen die Einhaltung
des Waffenstillstandes beobachten.
Einige von ihnen sind alte Bekannte:
Sie waren in Israel, Libanon,
dort eben, wo sich Nahostkriege
abspielten; aber dies, sagt
einer von ihnen, sei wohl der hoffnungsloseste
Auftrag, den er bisher
zu erfüllen hatte.
Mohammed, der noch vor zwei
Wochen große Hoffnungen in den
Aufstand setzte, hat sich mittlerweile
entschieden, nicht mehr darauf
zu warten, was kommen wird:
Während an einem Morgen eine
Bombe das Damaszener Zentrum
erschütterte, saßen er und seine
Familie im Flugzeug nach irgendwo
in Europa. Haitham will bleiben,
»so lange es geht«.
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 3. Mai 2012
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