Mit deutschen Augen
Das Urteil im ersten Hamburger Piratenprozess seit 400 Jahren verzögert sich voraussichtlich
Von Folke Havekost *
Das Verfahren in Hamburg gegen zehn
mutmaßliche Seeräuber aus Somalia
dauert bereits seit November 2010.
Durch den Wiedereintritt in die Beweisaufnahme
ist auch am heutigen
105. Verhandlungstag nicht, wie zunächst
vorgesehen, mit einem Richterspruch
zu rechnen.
Die letzten Worte werden wohl die
vorletzten sein. Saal 337 im Strafjustizgebäude,
das Landgericht
Hamburg verhandelt den »Piratenprozess
«, in dem zehn Somalier
angeklagt sind. Aus den langen,
mit Namensschildern versehenen
Reihen melden sich die Beschuldigten
zu Wort. Die Staatsanwaltschaft
hat zwischen vier und zwölf
Jahren Haft für sie gefordert: wegen
»Angriffs auf den Seeverkehr
und erpresserischem Menschenraub
«. »Wenn hier alles vorbei ist,
dann weiß ich einfach nicht weiter
«, gesteht ein Angeklagter am
Mittwoch: »Ich denke oft an
Selbstmord.« Teilweise höchst
emotional sprachen auch andere
Beschuldigte über ihre Situation.
Vorbei ist nun aber erst mal
nichts. Denn am Mittwoch schilderte
ein Angeklagter bislang nicht
behandelte Details. Er habe die
Telefonnummer eines Organisators
des Überfalls gespeichert, erklärte
der Mann. Das Gericht tritt
nun erneut in die Beweisaufnahme
ein. Ob das Urteil wie ursprünglich
geplant am heutigen Freitag verkündet
wird, hängt vom Verlauf
der Verhandlung ab.
Es ist nicht die erste überraschende
Wendung im ersten Prozess
seit über 400 Jahren, der in
der Hansestadt gegen mutmaßliche
Piraten geführt wird. Schon am
20. Januar war die Beweisaufnahme
zum ersten Mal abgeschlossen,
durch neue Anträge
aber wieder aufgenommen worden.
Die Beweislast scheint erdrückend,
doch neben dem Ob geht es
auch um das Wie und das Warum.
Die mutmaßlichen Piraten sollen
am 5. April 2010 den Frachter
»Taipan« der Hamburger Reederei
»Komrowski« überfallen haben.
Laut Anklage hatten die bewaffneten
Männer das Schiff rund 980
Kilometer vor der Küste Somalias
geentert und knapp vier Stunden
in ihrer Gewalt. Der Ort ist Brennpunkt
der Piraterie: 92 Prozent aller
2010 entführten Schiffe weltweit
wurden vor der somalischen
Küste gekapert.
Die Staatsanwaltschaft geht
davon aus, dass die Beschuldigten
für die »Taipan«-Besatzung ein
Lösegeld erpressen wollten. Die
15-köpfige Mannschaft konnte
aber in einen Sicherheitsraum
flüchten und schließlich von einem
niederländischen Marinekommando
befreit werden, das die Piraten
an Bord festnahm. Die Niederlande
lieferten die Somalier im
Juni 2010 an Deutschland aus.
Einige Angeklagte haben Geständnisse
oder Teilgeständnisse
abgelegt. Die Verteidigung fordert
Freisprüche oder mildere Strafen.
Er habe noch nie einen Prozess erlebt,
bei dem das, was oben auf
der Richterbank passiert, und das,
was bei seinem Mandanten ankommt,
derart weit auseinanderdrifte,
sagt ein Anwalt. Die Kammer
unter dem Vorsitz von Bernd
Steinmetz wird dafür kritisiert,
kaum Sachverständige zur Lage
vor Ort gehört zu haben, die das
Geschehen mit dem Zusammenbruch
der Infrastruktur in Somalia
und den dortigen Lebensverhältnissen
in Zusammenhang hätten
bringen können. Die Fischereiraubzüge
von Schleppnetzbooten
aus der Europäischen Union vor
Somalias Küste passen ebenfalls
schlecht zum einfachen Bild skrupelloser
Räuberbanden. Dass die
streng hierarchisch organisierte
Piraterie inzwischen zum bedeutendsten
Wirtschaftsfaktor des
zerfallenen Landes geworden ist,
dürfte sich für die Angeklagten allenfalls
bedingt strafmildernd auswirken.
»Das Gericht will unser Land
nur mit deutschen Augen sehen«,
äußerte sich ein Angeklagter während
des Prozesses. Und Verteidiger
Rainer Pohlen bemängelt: »Wir
maßen uns hier an, Recht zu sprechen
nach unseren deutschen
Vorstellungen über Menschen, deren
Lebenssituation wir nicht mal
annähernd nachvollziehen können.«
* Aus: neues deutschland, Freitag, 19. Oktober 2012
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